Außenkommando Unterlüß (auch "Lager Tannenberg" oder Altensothrieth)
Bernd Horstmann, Februar 2001
(inzwischen unter dem Artikel „Unterlüss“ veröffentlicht in: U.S. Holocaust Memorial Museum, Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933-1945 Vol. 1, ed. by Geoffrey P. Megargee, Indiana University Press 2009, pg. 286ff.)
Die Firma Rheinmetall-Borsig AG, einer der wichtigsten deutschen Waffen- und Munitionsproduzenten während des Krieges, hatte in Unterlüß schon vor 1939 eine große Munitionsfabrik errichtet. Im Jahr 1944 existierte in dieser Gegend eine ganze Reihe von Lagern, in denen sogenannte Fremdarbeiter, Kriegsgefangene und andere Zwangsarbeiter verschiedener Nationalitäten lebten und für Rheinmetall-Borsig arbeiten mussten.
Im Ortsteil Altensothrieth der Gemeinde Unterlüß befand sich das "Lager Tannenberg", in dem bis Mitte des Jahres italienische Kriegsgefangene untergebracht waren. In dieses etwa 30 Kilometer vom Konzentrationslager Bergen-Belsen entfernte Lager trafen in einem ersten Transport gegen Ende August 1944 schätzungsweise 400 bis 800 jüdische Frauen und Mädchen aus Auschwitz ein.
Die damals 24 jährige Nelly Hronsky war mit ihren zwei Schwestern in diesem Transport. Sie schreibt in einem Brief:
"After 2-3 days travel in cattle wagons from Auschwitz we arrived somewhere and marched to the camp. We had no idea where we are. Our transport had about 800 women, better said young girls and very few women. [...] The camp was only for women and all of us were Jews. As far as I can remember the nationalities were a group of Polish girls; very few from Yugoslavia and our group from Hungary. [...]
We recognized that the place was occupied before us, but it was empty when we came there." (1)
Neben den genannten Nationalitäten waren auch einige tschechische, und rumänische Frauen in Unterlüß. Ihre Schwester Ilana Hronsky beschreibt in ihrem Brief das Lager:
"The camp was located deep in the woods. As we entered the gate, on our right was a long wooden structure which housed the kitchen and, I believe, contained housing for the German chef who was in charge of preparing food for the inmates of Tannenberglager and also for a nearby camp of French prisoners. [...]
Further up, on the same side where the kitchen was located, was the building of the German Headquarters. [...]
Upon entering the gate, on our left was a fence which divided the part I have described from the barracks of the inmates. There were three barracks called block I, block II and block III. Inside there were bunkbeds and hundreds of us were placed in each of the barracks. I believe block II housed the tiny infirmary which was used only for minor services, such as getting bandages for injuries. Serious health problems were not reported. If they became obvious, the involved persons were taken away and never heard from again. Only after the war did we find out the fate of these girls – they all perished in Bergen-Belsen" (2)
Die Frauen arbeiteten in der Regel von Montag bis Samstag, manchmal auch Sonntags. Um 5.00 Uhr morgens standen sie auf und erhielten ein wenig Brot mit Aufstrich, bevor der Appell stattfand. Danach marschierten sie bei winterlicher Kälte in Sträflingskleidung und Holzschuhen zu den bis 15 Kilometer entfernt liegenden Arbeitskommandos. Hier hatten sie Straßen zu bauen, Schutt wegzuräumen, Schienen zu verlegen oder Bäume zu fällen (3). Im Ort Neulüß mussten sie das Fundament für ein neues Fabrikgebäude vorbereiten:
"The first thing we did was to dig and build bunkers near the ammunition factory. The bitter cold was always eating at our flesh. [...] When the bunkers were all built, the next job was to work at the ammunition factory on the night shift." (4)
Ein großer Teil der Frauen musste von abends um 20.00 Uhr bis morgens um 4.00 Uhr in der Munitionsfabrik arbeiten. In einem Interview mit sieben ungarischen Überlebenden aus Unterlüß erzählt Ricsy Sommer von der Fabrikarbeit:
"R.S.: Everybody tried to get out from the ammunition factory, because we were filling these schrapnels ... they were on a running band and filling it with this hot phosphor.
Interviewer: An assembly line?
R.S.: Yes, an assembly line. We turned red and yellow and orange, whatever it was. But it must have been such a dangerous work, that even the Germans ... they fed us and have a cup of milk every day." (5)
Der Kontakt mit den giftigen Stoffen und das Einatmen der ungesunden Dämpfe zerstörten die Gesundheit, die durch ein Glas Milch natürlich nicht wieder hergestellt wurde. Nach der täglichen Arbeit und dem Rückmarsch ins Lager gab es eine dünne Suppe.
Deutsche Bürger aus Unterlüß haben die weiblichen KZ-Häftlinge sehr wohl wahrgenommen. Zwei Lehrer berichten 1948 vom elenden Aussehen der kahlgeschorenen Frauen während des täglichen Marsches zum Arbeitseinsatz (6).
In der arbeitsfreien Zeit und an den Sonntagen wuschen sich die Frauen, flickten ihre Kleidung und hatten ein wenig Zeit miteinander zu reden:
"In the evenings we would concentrate on trying to keep ourselves clean. The washrooms had cold water only, but we had access to them and we took advantage of it. We were too exhausted to socialize or engage in any activities. Sometimes on Sundays we would gather in the corner of one of the barracks, sing songs we used to know at 'home', recite poetry and, in general, just to keep our spirits and each others from sagging." (7)
Rosalyn Gross Haber berichtet, dass die Ungarinnen ein Lied über eine der SS-Frauen verfassten. An eine der Strophen erinnert sie sich noch.
Soweit es die Umstände zuließen, versuchten die jüdischen Frauen die religiösen Feiertage zu achten. Sarah Berkowitz erinnert sich daran (8), dass einige am Yom Kippur 1944 nichts aßen. Dina Kraus feierte Ende März 1945 mit anderen Frauen in ihrer Baracke heimlich Seder und betete die Haggada. Sie schrieb sie vorher im Lager aus dem Gedächtnis nieder (9).
Sarah Berkowitz führte für eine Weile eine Art Tagebuch, das sie aus Angst vor einer Entdeckung durch die SS jedoch vernichtete (10).
Wie viele Transporte zu welchem Zeitpunkt das Lager erreichten oder verließen, ist nicht genau überliefert. Wahrscheinlich kam bereits im September ein zweiter Transport mit 100 polnischen Frauen und Mädchen aus dem Zeltlager von Bergen-Belsen hier an. Darauf weisen die Erinnerungen von Sarah Berkowitz (11) und Regina Goschen (12) hin. Ein Bericht der Firma Rheinmetall-Borsig spricht für den September 1944 vom "Einsatz von 800 jüdischen Frauen" (13). Im Zeitraum von Oktober bis November lag die Zahl wohl bei etwa 900 Frauen. Sicher ist, dass im Januar 1945 200 kranke und daher nicht mehr arbeitsfähige Frauen (14) in völlig vereisten Zugwaggons nach Bergen-Belsen gebracht wurden. Es muss im Winter weitere Abgänge gegeben haben, denn aus einer der wenigen erhalten gebliebenen Quellen aus der Kommandantur des KZ Bergen-Belsen geht hervor, dass sich Ende Februar 1945 im Außenlager Unterlüß noch 517 weibliche Häftlinge befanden (15).
Bei einem alliierten Luftangriff auf das Firmenareal der Rheinmetall am 4. April 1945 wurde die Munitionsfabrik völlig zerstört, aber auch der Ort Unterlüß getroffen. Das Mitteilungsblatt der Gemeinde spricht noch im Jahr 1995 in bemerkenswert einseitiger Einschätzung vom "schwärzesten Tag der Geschichte des Ortes" (16). Viele Tote gab es im Lager für die polnischen "Fremdarbeiterinnen" und im Säuglingsheim der "Ostarbeiterinnen".
Der Arbeitseinsatz der weiblichen Häftlinge des Außenlagers Unterlüß hörte mit diesem Datum auf. Das Lager wurde von der SS verriegelt (17).
Am frühen Morgen des 13.April 1945 flohen die SS-Leute vor den näher kommenden britischen Truppen. Als die Häftlinge die Flucht bemerkten, bemächtigten sie sich der in der Küche befindlichen Lebensmittel. Einige Frauen verließen sogar das Lager (18). Die Freiheit war nur kurz, da nach wenigen Stunden bewaffnete deutsche Zivilisten des Volkssturms eintrafen und die Frauen auf Lastwagen nach Bergen-Belsen brachten. Die Überlebende Valerie Jakober-Furth resümiert:
"Of the original group of 800 out of Auschwitz, perhaps 500 were left alive. The 300 who died, died in Belsen, not Unterluss." (19)
Einige der flüchtigen drei SS-Frauen und 18 SS-Männer, die für das Lager zuständig waren20, sind durch britische Ermittlungen bekannt. Eine der Blockältesten in Unterlüß, Irene Glück, beschreibt sie in ihrer Vernehmung (21). Der "relativ harmlose" Lagerkommandant SS- Hauptsturmführer Friedrich Diercks sei an den Lageraktivitäten nicht interessiert gewesen. Die eigentliche Leitung habe mit einer dreimonatigen Unterbrechung vom November 1944 bis zum Januar 1945 der SS-Hauptsturmführer Rudolf Wandt innegehabt. Während dessen Abwesenheit setzte der SS-Unterscharführer Hans Stecker eine brutalere Behandlung der Häftlinge durch, wobei ihn die SS-Aufseherin Susanne Hille unterstützte. Sie war bei den Häftlingen als "die Braune" gefürchtet.
Keiner der gesuchten SS-Leute aus dem Außenlager Unterlüß konnte juristisch zur Rechenschaft gezogen werden.
Ergänzung zu Überlieferung und Darstellung:
Über die bereits genannten Materialien hinaus gibt es an ungedruckten Quellen in der Gedenkstätte Bergen-Belsen weitere Korrespondenz mit Überlebenden des Außenlagers Unterlüß. Im Public Record Office und in Yad Vashem existieren zudem einige Kurzberichte ehemaliger Häftlinge22. In den Aussagen hoher SS-Funktionäre wird Unterlüß als Außenlager des KZ Bergen-Belsen genannt (23).
Neben dem kurzen Abriss von Benjamin Ferenc zur Geschichte dieses Außenlagers sind drei weitere knappe Darstellungen vorhanden. (24)